Seit den 1980er Jahren hat nicht nur die Diagnose von Depressionen und sozialer Phobie, sondern auch das Auftreten von Panikstörungen, Zwangsstörungen und dem „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom“ (ADHS) in geradezu epidemischem Ausmass zugenommen. Auch die bipolaren Störungen haben im Verlauf der letzten Jahre mächtig zugelegt. Tendenz: weiter steigend. […] Am anfälligsten für bipolare Störungen erscheinen junge Erwachsene zu sein. Fast sechs Prozent der 18 bis 29 Jährigen erfüllten im Erhebungszeitraum 2001-2003 die Diagnosekriterien für eine manisch-depressive Erkrankung[…].
Was aber, wenn die seit Jahren praktizierte „konsequente“ Pharmakotherapie selbst Teil des Problems ist? Tatsächlich gibt es gute Argumente dafür, dass ein wesentlicher Teil des bipolaren Booms bei Kindern durch das Gesundheitssystem selbst verursacht ist.
Eine manisch-depressive Erkrankung wird bei Kindern so gut wie nie von Anfang an diagnostiziert. Gemäss einer Untersuchung des Psychiaters Gianni Faedda haben weniger als zehn Prozent der später als bipolar betrachteten Kinder und Jugendliche diese Diagnose als Erstdiagnose erhalten. Bis 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit einer bipolaren Störung hätten auch ein ADHS, so schätzten Experten. Andere junge Patienten leiden gelichzeitig auch an Angst- und Zwangsstörungen. Bei verhaltensauffälligen Kindern wird in aller Regel zuerst ein ADHS oder eine (unipolare) depressive Erkrankung diagnostiziert. Diese zuerst diagnostizierten Störungen werden meist auch medikamentös behandelt, entweder mit Stimulanzien (z.B. Ritalin) oder mit Antidepressiva. Eine medizinische Praxis, die sich mit Verschreibungszahlen gut belegen lässt. So hat allein in England die Stimulanzien-Verschreibung von etwa 6000 im Jahr 1994 auf 450 000 im Jahr 2004 zugenommen. Beeindruckende 7000 Prozent in zehn Jahren. Dass Antidepressiva nicht nur bei Erwachsenen, sondern gerade auch bei Kindern Hypomanien und Manien auslösen können, ist schon lange bekannt.
Unter der Auswirkung von Ritalin […] erleben die ADHS-Kinder Zustände voller Energie, geschärfter Konzentration und gesteigerter Wachheit. Auch Schlafstörungen, Angst und hypomanisches oder aggressives Verhalten kommen vor. Lässt die Ritalin- Wirkung nach, kommt es zu Müdigkeit, Apathie und sozialem Rückzug. Viele Eltern kennen diese „Ritalin-crash“. Kinder auf Ritalin, so scheint es werden ein wenig bipolar. Bei einer beträchtlichen Anzahl von Kindern und Jugendlichen, so scheint es, wird eine bipolare Störung also erst iatrogen durch die Verschreibung von Stimulanzien und Antidepressiva ausgelöst.
Wie der Wissenschaftsjournalist Robert Whitaker in seinem Buch „Anatomie einer Epidemie“ ausführt, leiden Kinder mit medikamentös induzierter bipolarer Störung besonders häufig an schweren Verlaufsformen der Erkrankung. Dies äussert sich insbesondere darin, dass die Stimmung in rascher Folge zwischen depressiven und manischen Polen hin- und herpendelt. […] Besonders bipolare Patienten mit schnell wechselnder Stimmungslage haben aber schlechte Prognosen und tendieren dazu, in ihrer Krankheit zu chronifizieren. Eine echte Heilung ist dann häufig nicht mehr möglich und in vielen Fällen werden jugendliche bipolare Patienten zu Invalidenrenten-Beziehern.
Felix Hasler, Neuromythologie, transcript