Während es für viele Menschen früher einfach zum normalen Leben gehörte, gelegentlich Phasen der Traurigkeit, Energiearmut und Hoffnungslosigkeit zu durchleben, schreiben wir einem solchen Zustand heute schon sehr schnell einen Krankheitswert zu. Mit dazu beigetragen haben ohne Zweifel die zahlreichen Krankheitsaufklärungskampagnen der pharmazeutischen Industrie.
Ganz entscheidend für den überwältigenden Erfolg der SSRIs war die von Anfang an verfolgte Strategie, depressive Erkrankungen auf einen einfachen biologischen Mechanismus zu reduzieren. In aufwändigen Aufklärungskampagnen verbreitete die pharmazeutische Industrie noch bis vor kurzem eine simple und eingängige Botschaft: Depression ist eine Störung der Neurotransmitter-Systeme, insbesondere ein Serotoninmangel im Gehirn. […]
Erstaunlicherweise gibt es aber überhaupt keine wissenschaftlichen Studien, die diese Hypothese auch nur halbwegs überzeugend belegen könnten. In keiner einzigen Untersuchung wurde bis heute nachgewiesen, dass Veränderungen im Serotoninsystem bei irgendeiner psychischen Störung ätiopathogenetisch bedeutsam sind, während eine ganze Reihe von Studien das Gegenteil gezeigt hat.
Auch die Medien haben viel dazu beigetragen, dass sich die Meinung etablieren konnte, bei der Neurotransmitterhypothese der Depression handle es sich um eine eindeutig bewiesene medizinische Tatsache. Die amerikanischen Wissenschaftler Jonathan Leo und Jeffrey Lacasse haben sich dieses Phänomen genauer angeschaut. Wann immer sie einer entsprechenden Medienmittteilung begegnet sind, haben Leo und Lacasse den Verfasser des Berichts sowie den verantwortlichen Redakteur der Zeitung kontaktiert und gebeten, doch bitte die wissenschaftlichen Evidenzen zu nennen, auf die sie sich in ihrem Artikel beziehen. Zurück kam – nichts. Keiner der Autoren konnte auch nur eine einzige wissenschaftliche Studie oder einen Expertenkonsens zitieren, welche ihre Behauptung belegt, psychische Störungen seien Störungen des Neurotransmittergleichgewichts. […]
Psychiater Allen Frances hat […] an einer Konferenz in Berlin ein ernüchterndes Fazit zur biochemischen Hypothesen psychischer Störungen gezogen: „Unsere Neurotransmitter-Theorien sind nicht viel weiter als die Säfte Lehre der Griechen“